FAQ
Neuroplastische Schmerzen sind chronische Schmerzen, die nicht mehr auf eine akute Verletzung zurückzuführen sind. Sie entstehen durch dauerhafte Veränderungen im Nervensystem, das harmlose Signale fälschlich als Schmerz interpretiert – ein Ergebnis sogenannter „unerwünschter Lernprozesse“.
Angst und Stress können diese Fehlinterpretationen zusätzlich verstärken.
Die gute Nachricht: Da diese Schmerzen durch Lernprozesse entstanden sind, können sie durch gezielte therapeutische Maßnahmen auch wieder verlernt werden.
Neuroplastische Beschwerden entstehen, wenn unser Gehirn in Alarmbereitschaft versetzt wird – meist durch Angst, Stress oder unterdrückte Emotionen. Das Gehirn nutzt Schmerz als Warnsignal, um uns vor vermeintlicher Gefahr zu schützen, auch wenn keine echte Bedrohung besteht.
Das Gehirn und seine Schutzmechanismen
Unser Gehirn steuert unbewusst viele Körperfunktionen und passt uns an unsere Umwelt an. Erfahrungen und erlernte Muster beeinflussen, wie es auf bestimmte Situationen reagiert. Wenn das Gehirn wiederholt Stress oder Angst wahrnimmt, aktiviert es neuronale Pfade, die Schmerz oder andere Symptome auslösen. Je öfter dies geschieht, desto stärker werden diese Verbindungen.
Das Gehirn „lernt“ Schmerz.
Unbewusste Emotionen als Auslöser
Alles, was das Gehirn als Bedrohung interpretiert, kann Schmerzen oder Symptome verursachen. Dazu gehören Stress, große Veränderungen (auch positive), schwierige Kindheitserfahrungen oder unterdrückte Emotionen. Studien (1, 2, 3) zeigen, dass Menschen mit Ängsten, Depressionen oder traumatischen Erlebnissen häufiger an chronischen Schmerzen leiden. Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Perfektionismus, Selbstkritik oder People-Pleasing können ebenfalls dazu führen, dass das Gehirn dauerhaft in Alarmbereitschaft bleibt und dadurch Symptome aufrechterhält.
Erlernte Muster als Ursache
Manchmal beginnen neuroplastische Beschwerden mit einer echten Verletzung. Doch auch wenn die Wunde längst verheilt ist, speichert das Gehirn den Schmerz in seinen Netzwerken. Angst oder gewohnheitsmäßige Reaktionen können diese Netzwerke reaktivieren und verstärken, sodass Schmerzen bestehen bleiben – auch ohne körperliche Ursache.
Der Schmerz-Angst-Kreislauf
Anhaltende Schmerzen lösen oft Angst, Frustration oder Verzweiflung aus. Diese Emotionen verstärken das Alarmsystem im Gehirn, was wiederum die Schmerzen aufrechterhält – ein Teufelskreis entsteht. Die gute Nachricht: Durch gezielte Strategien kann dieser Kreislauf unterbrochen und das Gehirn neu trainiert werden.
Viele chronische Erkrankungen und Symptome weisen psychophysiologische Komponenten auf und sind grösstenteils neuroplastischen Ursprungs, darunter typischerweise die folgenden:
Rückenschmerzen, einschließlich der meisten Bandscheibenvorwölbungen und degenerativen Veränderungen
Nackenschmerzen, einschließlich der meisten Bandscheibenvorwölbungen und degenerativen Veränderungen
Andere muskuloskelettale Schmerzen (Schmerzen und Beschwerden im Bereich von Muskeln, Gelenken und Rücken)
Schleudertrauma
Schwindel
Übelkeit
Tinnitus
Chronische Kopfschmerzen
Migräne
Spannungskofschmerzen
Reizdarmsyndrom
Reizblasen-Syndrom
RSI (Repetitive Strain Injury – wiederholungsbedingte Belastungsschmerzen ugs. Mausarm)
Tennisellenbogen
CRPS (komplexes regionales Schmerzsyndrom)
Fibromyalgie
Viele Ekzeme / Hauterkrankungen
Einige Formen von Arthritis
Einige Ausprägungen von Endometriose
RSD (Reflexdystrophie)
Einige Formen von interstitieller Zystitis
Depression
Angstzustände
Andere medizinisch nicht erklärbare chronische Schmerzen
Andere medizinisch nicht erklärbare chronische Erschöpfung
Long Covid- und Post-Vac-Symptome (Aktuelle Forschung und therapeutische Erfahrungen zeigen, dass psychophysiologische Faktoren zur Entstehung dieser Symptome beitragen können und Mind-Body-Ansätze wirkungsvoll sein können.)
Wichtig ist eine medizinische Abklärung, um strukturelle Schäden oder Krankheiten auszuschließen. Sind diese nicht die Ursache, kann es sinnvoll sein, neuroplastische Schmerzen und Symptome als mögliche Erklärung in Betracht zu ziehen.
Es gibt bestimmte Merkmale, die darauf hinweisen, dass Schmerzen und Symptome neuroplastischen Ursprungs sind. Diese lassen sich in drei Kategorien einteilen: funktional, inkonsistent und getriggert.
Funktional: Die Symptome passen nicht zu einer strukturellen Veränderung im Körper. Sie treten entweder ohne erkennbare Verletzung oder Krankheit auf oder es gibt zwar körperliche Auffälligkeiten, doch die Beschwerden entsprechen nicht den typischen Mustern, die dazu passen würden.
Inkonsistent: Die Symptome verändern sich auf eine Weise, die bei einer körperlichen Erkrankung oder Verletzung ungewöhnlich wäre. Beispielsweise schwanken Schmerzen je nach Tageszeit, Aktivität oder Umgebung, wandern im Körper umher oder treten nur an bestimmten Tagen auf.
Getriggert: Die Symptome werden durch Reize ausgelöst, die eigentlich keine Schmerzen verursachen sollten. Dazu gehören bestimmte Bewegungen (z. B. Stehen, Bücken), Körperhaltungen (z. B. Sitzen, Liegen), Wetterveränderungen, Gerüche, Geräusche oder bestimmte Orte (z. B. der Arbeitsplatz). Diese Reize sind erlernte Auslöser – das Gehirn hat sie mit Schmerzen verknüpft, obwohl sie an sich harmlos sind. Dieses Schutzprogramm kann überempfindlich werden und dann auch auf neutrale Reize mit Schmerzen oder anderen Symptomen reagieren.
Um gelernte Schmerzen zu „verlernen“, muss das Gehirn verstehen, dass keine Gefahr besteht. Dadurch kann es wieder angemessen auf harmlose Körpersignale reagieren.
Es gibt zwei Wege, das Gehirn umzuprogrammieren:
Kognitive Veränderung: Durch Wissen und bewusstes Verstehen lernt das Gehirn, dass kein tatsächliches Risiko besteht. Aufklärung spielt dabei eine zentrale Rolle, ebenso wie Techniken aus der kognitiven Verhaltenstherapie.
Emotionale und körperliche Erfahrung: Über Methoden wie Meditation, Visualisierungen, Somatic Tracking und Körperpsychotherapie wird dem Gehirn auf emotionaler und körperlicher Ebene vermittelt, dass es sicher ist – und dass das Warnsignal „Schmerz“ nicht mehr gebraucht wird.
Es werden gezielt verschiedene Techniken genutzt, um unterschiedliche Hirnareale anzusprechen und neue, gesunde neuronale Verbindungen zu formen. So können Schmerzen und Symptome nach und nach verschwinden.
Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort, da der Heilungsprozess bei jeder Person unterschiedlich verläuft. Wie lange es dauert, hängt davon ab, wann dein Gehirn erkennt, dass die auftretenden Schmerzen und Symptome keine Bedrohung darstellen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist, wie schnell sich dein Nervensystem aus dem Zustand erhöhter Alarmbereitschaft lösen kann. Ein erster entscheidender Schritt ist, offen für den Prozess zu sein und ihm zu vertrauen.
Dein Gehirn steuert Schmerz auf eine ganz individuelle Weise, und diese Mechanismen können sich mit der Zeit verändern. Erfahrungen, Gedanken, Gefühle und Ängste beeinflussen, wie dein Nervensystem auf Stress reagiert. Manche Menschen spüren fast sofort eine Besserung, sobald sie ein tiefes Verständnis für den Mind Body Ansatz entwickeln – doch das ist eher die Ausnahme. Die meisten erleben eine schrittweise Veränderung, die Wochen, Monate oder länger dauern kann.
Wichtig ist zu wissen: Der Heilungsprozess verläuft selten gradlinig. Höhen und Tiefen gehören dazu und sind Teil der natürlichen Anpassung deines Nervensystems.
Es handelt sich um einen modernen, wissenschaftlich belegten Ansatz zur Behandlung von chronischen Schmerzen - neuroplastischen Schmerzen. Entwickelt von Alan Gordon.
Sie zielt darauf ab, das Gehirn dabei zu unterstützen, Schmerzsignale neu zu bewerten und dauerhaft zu verändern. So können Schmerzen gelindert oder ganz aufgelöst werden – ohne Medikamente oder invasive Eingriffe.
Besonders gute Ergebnisse wurden bei chronischen Rücken-, Nacken- und Gelenkschmerzen erzielt. Die Methode kann aber auch bei anderen funktionellen Beschwerden helfen, wenn eine körperliche Ursache ausgeschlossen wurde.
Die PRT wurde von Alan Gordon, einem amerikanischen Psychotherapeuten und Experten für Schmerzpsychologie, entwickelt.
Es gibt eine Studie der JAMA Psychiatry, die zeigte, dass rund zwei Drittel der Teilnehmenden nach vier Wochen nahezu schmerzfrei waren – mit anhaltendem Effekt nach einem Jahr.
Ich verwende den deutschen Begriff, um den Ansatz für meine Klient:innen greifbarer zu machen.
Er beschreibt für mich treffend, worum es geht: Den Schmerz verstehen, verarbeiten und loslassen.
Wenn Schmerzen oder andere anhaltende Symptome auftreten, reagieren viele Menschen mit Angst, Frustration oder Verzweiflung. Es entsteht schnell die Sorge, dass etwas mit dem Körper oder der Psyche nicht stimmt.
Diese Reaktion ist völlig verständlich – sie kann jedoch dazu führen, dass sich der Schmerz verstärkt oder hartnäckig bestehen bleibt. Das Gehirn interpretiert die Angst als Bedrohung und bleibt in einem Alarmzustand. Dadurch entsteht ein Teufelskreis aus Schmerz und Angst.
Ein fundiertes Verständnis von Schmerzen – insbesondere von neuroplastischen Schmerzen – hilft, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Zu wissen, dass keine strukturelle oder organische Ursache hinter den Symptomen steckt, kann dem Gehirn signalisieren, dass keine Gefahr besteht. Dadurch verliert der Schmerz an Intensität und Einfluss. Studien zeigen, dass bereits die Aufklärung über neuroplastische Schmerzen eine wirksame Therapiemethode sein kann.
Einige Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensmuster können dazu beitragen, dass chronische Schmerzen und Symptome bestehen bleiben oder sogar entstehen. Sie gelten als Risikofaktoren, da sie die Stresswahrnehmung des Gehirns beeinflussen.
Stress ist nicht nur eine äußere Belastung, sondern die Einschätzung deines Gehirns, das eine Situation deine Ressourcen übersteigt – sei es zeitlich, emotional oder in deiner Bewältigungsfähigkeit. Gerät das Gehirn in einen anhaltenden Stressmodus, kommt es zu physiologischen Veränderungen, die Schmerzen verstärken oder sogar auslösen können.
Welche Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen sind häufig beteiligt?
Perfektionismus: Du setzt dir extrem hohe Standards und hast das Gefühl, nie gut genug zu sein.
Geringes Selbstwertgefühl: Du zweifelst an deinem eigenen Wert und suchst oft Bestätigung im Außen.
People Pleasing: Du möchtest von allen gemocht werden und stellst die Bedürfnisse anderer über deine eigenen.
Ständige Fürsorge: Du übernimmst immer Verantwortung für das Wohlergehen anderer, oft auf Kosten deiner eigenen Grenzen.
Innere kritische Stimme: Dein innerer Dialog ist geprägt von Selbstkritik und hohen Erwartungen.
Ständiges Sorgen: Du neigst zum „Katastrophisieren“ und stellst dir oft das schlimmstmögliche Szenario vor.
Unterdrückte Emotionen: Du vermeidest oder verdrängst starke Gefühle, weil du Angst hast, schwach oder unkontrolliert zu wirken.
Diese Eigenschaften sind grundsätzlich nicht schlecht – im Gegenteil, sie haben oft eine wichtige Schutzfunktion erfüllt. Doch wenn sie dauerhaft das Stresserleben beeinflussen, können sie zur Verstärkung oder Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen beitragen.
Die gute Nachricht: Das Gehirn ist plastisch und veränderbar. Schmerzempfinden, Überzeugungen und Verhaltensweisen lassen sich durch gezielte Arbeit umgestalten. Dadurch kann ein neuer Umgang mit Schmerzen erlernt werden – und der Körper findet wieder in seine Balance zurück.
Nein! Neuroplastische Schmerzen und Symptome sind keinesfalls eingebildet oder weniger real. Obwohl sie mit psychologischen Ansätzen behandelt werden können, sind sie genauso spürbar und belastend wie Schmerzen, die durch eine Verletzung oder Krankheit entstehen.
Unser Gehirn erzeugt alle Schmerzempfindungen – unabhängig davon, ob sie durch eine körperliche Schädigung oder durch erlernte Muster entstehen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass neuroplastische Schmerzen durch messbare Veränderungen im Gehirn ausgelöst werden und sich nicht von Schmerzen aufgrund einer Verletzung oder Erkrankung unterscheiden.
Es gibt also keine Trennung zwischen „echten“ und „eingebildeten“ Schmerzen. Vielmehr gibt es:
Akute Schmerzen, die nach einer Verletzung oder Krankheit auftreten.
Neuroplastische Schmerzen, die das Gehirn gelernt hat und die unabhängig von einer körperlichen Ursache bestehen.
Beide Schmerzarten sind real – und beide entstehen im Gehirn.
Seit Jahrzehnten folgt unser Gesundheitssystem dem Prinzip des Dualismus – einer strikten Trennung zwischen Körper und Psyche. Dies spiegelt sich sowohl in der medizinischen Ausbildung als auch in der Praxis wider: Psychische und physische Beschwerden werden getrennt behandelt, in der Psychiatrie einerseits und der körperlichen Medizin andererseits.
Diese Denkweise prägt bis heute viele Bereiche der medizinischen Forschung und Lehre.
Der Fokus der modernen Medizin liegt vor allem auf der Akutversorgung. Dank bahnbrechender Fortschritte in der Behandlung von Krebs, Infektionskrankheiten und Herz-Kreislauf-Erkrankungen leben viele Menschen heute länger und gesünder. Doch insbesondere bei chronischen Beschwerden stößt dieses Modell an seine Grenzen. Viele Erkrankungen lassen sich nicht klar in „nur körperlich“ oder „nur psychisch“ einordnen – anhaltende Schmerzen und andere funktionelle Symptome gehören dazu.
Dass viele Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen neuroplastische Schmerzen nicht thematisieren, liegt nicht daran, dass dieses Wissen unwichtig oder unbewiesen wäre. Vielmehr ist es eine Folge der klassischen medizinischen Ausbildung und der starren Strukturen unseres Gesundheits- und Versicherungssystems. Diese setzen vielen Fachkräften enge Grenzen, wenn es darum geht, neue Ansätze in die Behandlung zu integrieren.
Dennoch wächst das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Körper und Geist. Immer mehr Ärzt:innen und medizinische Einrichtungen greifen die Prinzipien der Mind-Body Medizin auf und beziehen sie in ihre Arbeit mit ein.